Die rosarote Pille

Als ich Thomox das erste Mal von meinem Plan erzählt habe, hat er mich für verrückt erklärt. „Liebling, was hat das für einen Sinn?“, hat er gefragt und dabei meine Hand genommen. Schließlich ist es für jemanden aus unserer Generation in höchstem Maße ungewöhnlich, die rosarote Pille abzusetzen. Aber ich wollte es unbedingt.

 

Cupidamin Forte kam 2069 auf den Markt und war vom Fleck weg ein Riesenerfolg. Die Tabletten waren von Anfang an herzförmig und rosa, genau wie heute. Schnell sprach sich herum, was Cupidamin Forte alles kann. Es ist weit mehr als bloß ein Potenzmittel. Mit seinem wilden Hormonmix erzeugt es ein täuschend echtes Gefühl der Verliebtheit. Wenn man es wünscht, ein Leben lang. Und so hatte das Präparat innerhalb kürzester Zeit seinen Spitznamen weg: die rosarote Pille. In den Ländern der Internationalen Allianz, in denen die rosarote Pille erlaubt ist, sank die Scheidungsrate binnen weniger Monate auf schlappe 0,5 Prozent. Alle haben sich so gierig auf die Pille gestürzt als hätten sie nur darauf gewartet. Sogar meine Eltern, die zu der Zeit eigentlich schon 20 Jahre glücklich verheiratet waren. „Wenn es eine Möglichkeit gibt, dass man sich nicht mehr streitet … warum nicht?“, hat meine Mutter gesagt. Ich habe ihr zugestimmt – damals.

 

Heute, 15 Jahre nach Einführung der rosaroten Pille, sehe ich die Dinge etwas anders. Ich habe mit Thomox einen sehr gutaussehenden, höflichen, einfach rundherum tollen Mann an meiner Seite. Aber unsere Ehe wurde, wie die meisten inzwischen, nach Kompatibilitätspunkten arrangiert. Als wir uns das erste Mal gesehen haben, standen wir bereits vor dem Altar. Am Abend vor unserer Hochzeit haben wir beide mit der Einnahme der rosaroten Pille begonnen.

 

Jetzt sind wir schon drei Jahre verheiratet und ich bin glücklich wie eh und je. Doch gegen die rosarote Pille regt sich seit einigen Wochen ein heftiger Widerstand in mir. Heute früh war es dann so weit: Ich habe die Cupidamin Forte-Packung in den Müll geschmissen. Morgens keine Pille genommen und mittags auch nicht. Der Grund für meinen Sinneswandel? Ich wünsche mir von ganzem Herzen ein Baby. In einem alten Papierbuch über Zigeunermythen habe ich gelesen, dass das Leben eines Kindes, dessen Eltern sich zum Zeitpunkt der Zeugung ehrlich und hingebungsvoll lieben, unter einem besonders guten Stern steht. Aber wie soll das Universum wissen, ob ich Thomox wirklich liebe, wenn die Liebe doch von Anfang an chemisch herbeigeführt wurde? Ich meine, ich weiß natürlich, dass wir beide eine große Liebe teilen, ganz unabhängig von irgendwelchen einflussnehmenden Stoffen. Aber die Sterne, die seit Millionen von Jahren unsere Geschicke lenken, sollen ebenfalls keinen Zweifel daran haben.

 

Und so habe ich meinen Mann gebeten, auf die rosarote Pille zu verzichten. Ich musste ihn tagelang bearbeiten, aber schließlich hat er zähneknirschend zugestimmt. „Du bist ganz schön mutig, Antella“, hat er gesagt, „ aber dafür liebe ich dich.“ Für uns beide ist es nun gut 18 Stunden her, dass wir das letzte Mal die rosarote Pille genommen haben.

 

Ein Klingeln reißt mich aus meinen Gedanken. Thomox! Ich renne in den Korridor und öffne mit zitternden Händen die Wohnungstür. Thomox kommt herein und gibt mir zur Begrüßung einen Kuss auf den Mund. „Hallo, Liebling.“

 

„Hallo, mein Schatz! Spürst du schon was?“, frage ich aufgeregt.

 

Thomox schüttelt den Kopf. „Nein, du?“

 

„Nein, noch nicht!“

 

Thomox stellt seinen Aktenrucksack auf den Boden und zieht den Mantel aus. „Ich habe ehrlich gesagt sogar vergessen, dass wir heute die Pille abgesetzt haben. Aber ich liebe dich noch genauso wie am ersten Tag.“

 

Vergessen? Wie konnte er das vergessen? Ich habe den ganzen Tag vor lauter Nervosität überhaupt nichts auf die Reihe gekriegt und er hat es einfach vergessen?

 

Ich streiche ihm liebevoll über die Wange. Wir gehen ins Telezimmer. Es folgt ein wunderschöner Abend mit alten Retro-Dub-Songs und einer Flasche Ionenwein. Wir sprechen über unsere Zukunft, anstehende Reisepläne und darüber, wie unser Kind wohl heißen könnte. Mir gefallen Lara und Felix, aber Thomox findet diese Namen altmodisch.

 

„Wir haben nicht mehr viel Zeit zum Überlegen“, scherze ich. „Stell dir vor, ich werde in den nächsten Tagen schwanger. Wenn ich mich für eine Rapidschwangerschaft anmelde, ist das Baby in vier Monaten da!“

 

Thomox lacht. „Okay, keinen Wein mehr für dich!“

 

Erst kurz vor Mitternacht gehen wir ins Bett. Ich bin eigentlich viel zu aufgekratzt um zu schlafen. Aber Thomox stellt den Wiegemodus ein und so werden wir sanft in den Schlaf geschaukelt.

 

„Ich liebe dich“, murmelt Thomox und ein warmes Gefühl durchströmt mich.

 

„Ich liebe dich auch“, antworte ich und denke: Morgen! Morgen ist es so weit. Da lerne ich sie kennen, die echte, die wahre Liebe …


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Ich werde vom freundlichen Surren des Putzomaten geweckt. Er ist bereits fleißig dabei, im Telezimmer die Spuren der letzten Nacht zu beseitigen. Goldene Sonnenstrahlen schieben sich durch die Jalousien. Ich drehe mich zu Thomox um und … erstarre. Seine grauen Augen sehen mich unverwandt an.

 

„Wow“, sagt er.

 

„Ja“, sage ich, „wow“.

 

Schwerfällig richten wir uns auf. Thomox schaltet das Bett aus, das sich plötzlich hart und unbequem anfühlt.

 

Wir schauen uns in die Augen, schüchtern und unsicher wie zwei Teenager.

 

Thomox räuspert sich. „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, was?“

 

Mir fällt ein Stein vom Herzen. Es geht ihm genauso wie mir. Ich nicke erleichtert.