Süßes oder Saures?

Wir trafen uns wie jedes Jahr bei Kalle, so gegen drei Uhr am Nachmittag, denn am frühen Abend sollte es ja schon losgehen. Wir, das waren Kalle, Bernhard und ich. Wir könnten nicht tun, was wir tun, wenn wir nicht wären, was wir sind: Kleinwüchsige. Winzlinge, Lilliputaner, abgebrochene Zwerge. Kalle war 1 Meter 20. Der dicke Bernhard maß nur 1 Meter 18. Und ich war mit stolzen 1 Meter 33 der Riese in unserer kleinen Gruppe.

 

Seit ein paar Jahren zogen wir jedes Jahr an Halloween um die Häuser, denn, wie Kalle sagte: „Halloween ist der einzige Tag im Jahr, an dem Leute wie wir mal nicht schief angeguckt werden.“

 

„Leute wir wir“ – wenn ich das schon hörte! Aber na ja, Kalle war eher ein einfaches Gemüt. Außerdem kannten wir uns bereits seit der Schulzeit. Also ließ ich ihm das durchgehen.

 

Es war schon verrückt: Die Normalos taten an Halloween alles, um wie Monster auszusehen. Und wir, die wir nie normal sein konnten, machten da auch noch mit. Und fühlten uns gerade dadurch ein bisschen normaler. Ich weiß auch nicht, warum uns das Süßigkeiten sammeln so wichtig war. Schließlich waren wir alle gestandene Männer über 30. Vielleicht wollten wir einfach einmal im Jahr das Gefühl haben, dass es okay war, klein zu sein. Dass die Leute uns mochten, gerade weil wir klein waren. Uns sogar was schenkten. Einfach so. Und wenn wir bis spät in die Nacht die Süßigkeiten aßen, die wir erbeutet hatten, dann war das ein Gefühl wie Kindheit. Wie damals, als unsere Altersgenossen noch gar nicht so viel größer waren als wir. Und die Erwachsenen meinten, wir müssten nur tüchtig essen, dann würden wir schon groß und stark werden. Die ultimative Nostalgie.

 

Mit dem Verkleiden hatten wir uns diesmal keine besondere Mühe gegeben. Ich hatte mich für ein Frankensteinkostüm entschieden. Die helmartige Maske hatte ich in einem Spielwarenladen gekauft. Dazu trug ich einen zerschlissenen alten Anzug, den ich eigentlich längst hatte wegwerfen wollen.

 

Bernhard, der kleinste und dickste von uns, kam mit einer bescheuerten Anonymous-Maske an. Das satanisch-selbstgefällige Lächeln der weißen Maske passte so gar nicht zu unserem ruhigen, gemütlichen Bernhard.

 

„Ist das alles?“, fragte Kalle verächtlich.

 

Bernhard zuckte mit den Schultern. „Hauptsache, sie sehen mein Gesicht nicht.“

 

Das stimmte nicht ganz. Bernhard war nicht nur viel korpulenter als der durchschnittliche Fünfjährige, sondern auch stärker verwachsen als Kalle und ich. Irgendwie hatte sein Körper es geschafft, sowohl einen Buckel als auch einen vorgewölbten Brustkorb auszubilden, was ihm das Aussehen einer umgedrehten Birne verlieh. Aber mit der Maske über seinem Gesicht müsste es gehen. Die zu engen Jeans und den unförmigen Pullover konnte ein Kind durchaus tragen. Und erst nach der Süßigkeitenübergabe würden die Leute Bernhard von hinten sehen und vielleicht seinen leicht watschelnden Gang oder die kahlen Stellen am Hinterkopf bemerken. Möglicherweise würden sie Bernhard für ein Krebskind halten. Na, ganz gesund war er ja wirklich nicht.

 

Kalle hatte mit seinem Kostüm den Vogel abgeschossen. Er zog sich im Schlafzimmer um und trat als Super Mario heraus. Über einem roten Hemd trug er einen Blaumann, dazu ein rotes Basecap, weiße Handschuhe und einen falschen Schnurrbart. Wie ein Model drehte er sich langsam vor uns im Kreis. „Na, was sagt ihr?“

 

Bernhard und ich tauschten einen skeptischen Blick.

 

„Super Mario ist doch gar nicht gruselig“, murmelte Bernhard.

 

„Findest du?“, fragte Kalle. „Da kann man durchaus geteilter Meinung sein.“

 

Ich hatte ganz andere Bedenken. „Glaubst du nicht, dass das viel zu … na ja … offen ist?“ Der Schnurrbart war groß und buschig, aber er konnte nicht verstecken, dass Kalle schon 35 war – und auch so aussah.

 

„Quatsch. Darauf achtet doch kein Mensch. Die sehen nur unsere Größe und das war’s. So wie immer. Außerdem, wenn die Leute sympathisch sind, ist es doch viel angenehmer, wenn man nicht hinter so einer blöden Gummimaske schwitzen muss.“

 

Ach so, daher wehte der Wind. Ich hegte schon lange den Verdacht, dass Kalle unsere jährliche Süßigkeitentour in erster Linie veranstaltete, um Frauen kennen zu lernen. Statt Bonbons und Schokolade hätte er viel lieber Telefonnummern eingesammelt. Und ohne Maske ließ es sich deutlich besser flirten.

 

Kalle holte für jeden ein Bier aus dem Kühlschrank und erklärte uns die Route. Wir wollten diesmal durch die Nordstadt unseres Heimatortes Nibelhausen. Normalerweise gingen wir immer durch die Südstadt, weil es dort viele mehrstöckige Häuser gab. Man musste nicht so viel laufen, um von Tür zu Tür zu kommen. Aber inzwischen kannte Kalle dort so viele Leute, dass er befürchtete, bei unserer Tour auf Freunde oder Bekannte zu treffen. Und das wäre doch ziemlich peinlich geworden. So wie vor zwei Jahren, als wir aus Versehen bei Bernhards Eltern geklingelt hatten. Bernhard stieg noch immer die Schamesröte ins Gesicht, wenn wir ihn an diese eigentlich lustige Episode erinnerten.


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Gegen sechs Uhr abends schnappten wir uns jeder einen dunkelblauen Müllsack und zogen los. Die Nordstadt war viel ländlicher als die Südstadt. Hier waren mehr Kinder unterwegs. Also, richtige Kinder. Unsere Konkurrenz sozusagen. Vielleicht lag das aber auch daran, dass es in diesem Herbst ungewöhnlich mild war. Wir wurden auch von mehr Hunden angebellt als gewöhnlich.

 

Die meisten der Häuser hatten einen Garten. Wir sahen die obligatorischen Gartenzwerge, die wohl jeder Kleinwüchsige von Herzen hasst. Vor allem Kalle brachten die Dinger jedes Mal auf die Palme. „Gartenzwerge sind eine Beleidigung fürs Auge“, schimpfte er. „Und nicht nur für das kleinwüchsige Auge. Für jedes Auge!“

 

„Reg dich ab“, beschwichtigte ich. „Schau mal, die Deko.“ Die Vorgärten waren mit ausgehöhlten Kürbissen, Fledermausattrappen und übergroßen Spinnennetzen geschmückt. Sehr stimmungsvoll. Das gab es in der Südstadt nicht.

 

Wie jedes Jahr war ich wieder für die Ansagen zuständig. Zwar hatten wir alle recht hohe Stimmen, aber meine klang am normalsten. Wir wollten die Leute ja nicht erschrecken. An die 60 Mal sagte ich an diesem Abend so einen doofen Spruch wie: „Was Süßes raus, sonst spukt’s im Haus!“ Oder: „Tut ihr nix in unseren Sack, nehmen wir euch huckepack!“ Bernhard musste dann immer kichern, was mich extrem nervte.

 

Am ergiebigsten waren alte Frauen. Die rückten das meiste raus. Jüngere waren eher genervt, gaben wenig oder knallten uns einfach die Tür vor der Nase zu. Zu alt durften die Leute allerdings auch nicht sein, denn dann kannten sie Halloween gar nicht und man musste ihnen alles erklären, nur damit sie einem bescheinigten, dass sie „diesen neumodischen Kram“ ganz bestimmt nicht mitmachen würden.


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Es war schon nach neun, als wir an ein flaches, gelb gestrichenes Haus kamen. Das Haus war klein, stand aber mitten in einem großen Garten. Auch hier wieder: Gartenzwerge. Besonders scheußliche Exemplare. Ich sah einen Zwerg mit Vampirzähnen und einen diabolisch grinsenden Teufelszwerg. Ob die wohl das ganze Jahr lang hier standen? Oder nur an Halloween? Auf jeden Fall waren sie geschmacklos ohne Ende. Aber wenigstens waren sie nicht bunt angemalt, sondern aus glattem grauen Stein. Das ließ sie fast künstlerisch wirken. Eine Zwergenfigur in einem langen Kleid mit spitzem, steinernem Hut erinnerte mich an meine frühere Freundin. Lisa. Sie war 1 Meter 35 groß gewesen. Das letzte Mal hatte ich sie vor drei Jahren gesehen, zu meinem Geburtstag im September.

 

Auf dem Namensschild stand „Albrecht“. Wir gingen durch das offene Gartentor bis zur Haustür und klingelten. Schnelle Schritte, dann öffnete ein kleiner Mann die Tür. Ein kleiner Mann! Einer von uns! Er trug einen teuren, maßgeschneiderten Anzug, der in Kontrast zu seinem langen, grau-weißen Bart und der gestrickten, beigefarbenen Pudelmütze stand, die voluminös wie eine Krone auf seinem Kopf prangte. Er war noch mal deutlich kleiner als wir. Höchstens einen Meter groß, schätzte ich, aber von schlankem Wuchs.

 

Jetzt galt es. Würde er uns durchschauen, mit seinem geübten Blick? Vor Aufregung vergaß ich alle meine altklugen Sprüche und stammelte nur: „S…Süßes oder Saures?“

 

Neben mir stand Bernhard wie angewurzelt da. Kalle hatte unter seinem Schnurrbart ein dümmliches Grinsen aufgesetzt und schaukelte von den Fersen auf die Zehenspitzen und zurück. Offensichtlich versuchte unser Super Mario einen besonders kindlichen Eindruck zu machen.

 

Herr Albrecht leckte sich über die Lippen. Er blickte uns aufmerksam an, sagte aber nichts. Dann nickte er kurz und trippelte ins Haus zurück. Nach wenigen Sekunden kam er mit einer großen Schüssel wieder. Ein himmlischer Geruch ging davon aus. Es waren Schokoladenkekse, kleine, unförmige Bröckchen, vermutlich selbstgebacken. Wir griffen in die Schüssel und nahmen uns jeder ein Stück heraus.

 

„Dankeschön“, flötete ich in meiner besten Kinderstimme.

 

Herr Albrecht nickte erneut und schloss die Tür. Noch auf dem Weg zum Gartentor steckten wir uns die Schokolade in den Mund. Sie duftete einfach zu gut. Und sie war ja sowieso nicht eingepackt.

 

Erst als mir schwindlig wurde, zählte mein Unterbewusstsein eins und eins zusammen. Wir hätten doch durch die Südstadt ziehen sollen, war mein letzter Gedanke, bevor ich auf dem Boden aufschlug.


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Ich erwachte mit schrecklichen Kopfschmerzen. Das erste, was ich sah, war Bernhards halbnackter Hintern. Aus seiner schlecht sitzenden Hose guckte die Pofalte heraus. Würg. Aber der unappetitliche Anblick war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass alles grau war: Bernhards Jeans, Bernhards Poritze, überhaupt der ganze Bernhard. Grau und unbeweglich. Ich versuchte, in die Novembersonne zu blinzeln, aber es gelang mir nicht. Meine Augenlider bewegten sich keinen Millimeter. Ich konnte keinen einzigen Körperteil regen.

 

Der listige Zwerg hatte uns also ohne viel Federlesens und zu seinem puren Vergnügen im Garten aufgestellt. Neben Bernhards Rückenansicht konnte ich links ein bisschen vom Haus und vor mir die Straße hinter dem Zaun erkennen. Ich sah auch ein paar andere Figuren, aber Kalle konnte ich nirgends entdecken. Sicher stand er auch irgendwo.

 

Nach einer Weile erspähte ich aus dem Augenwinkel einen kleinen Mann das Haus verlassen. Er trug einen Hut und eine schwarze Aktentasche. Herr Albrecht. Er ging zu seinem Auto, ohne sich zu uns umzudrehen.

 

Ich starrte weiter auf Bernhards Hintern. Bald würde es Winter werden. Ich überlegte, wie viele Gärten mit wie vielen Zwergenfiguren es wohl auf der Welt gab. Und wie lange schon. Ich musste schlucken. Aber das ging natürlich auch nicht.


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Falls Sie irgendwann einmal durch die Nibelhausener Nordstadt schlendern und einen Garten mit steinernen Zwergenfiguren sehen … Der Große ganz rechts, mit dem Frankensteingesicht und dem löchrigen Jackett – das bin ich!