Fenster in die Vergangenheit

„Geh ruhig allein“, sagt Tim. „Ich bin einfach zu kaputt.“

 

„Bist du sicher?“ Der Gedanke, abends allein durch Berlin zu stromern, ist mir ein bisschen unheimlich.

 

„Klar. Hast du gesehen, was für Massen noch auf den Straßen sind? Das ist bestimmt nicht gefährlich.“

 

Gut, direkt gefährlich ist es wohl wirklich nicht. Und doch, ich bin in einer fremden Stadt. Aber wir haben bloß dieses eine Wochenende in Berlin und ich will den ersten von nur zwei Abenden nicht gleich vor dem Fernseher im Hotelzimmer versacken. Also packe ich meine Handtasche, gebe Tim einen flüchtigen Kuss und ziehe los.

 

Es ist schon fast dunkel. Kurz vor neun sind wir mit dem Zug aus Hamburg am Berliner Hauptbahnhof angekommen. Keiner von uns ist vorher schon mal hier gewesen – es hat sich einfach noch nicht ergeben. In zwei Tagen wollen wir uns nun das komplette Touri-Programm geben. Morgen stehen East Side Gallery, Reichstag und KaDeWe auf dem Plan. Am Sonntag werden wir, wenn das Wetter mitspielt, eine Bootsfahrt auf der Spree machen.

 

Gemütlich schlendere ich Unter den Linden entlang. Es ist warm, zu warm eigentlich für Anfang Mai. Ist hier nicht irgendwo das Brandenburger Tor? Rechts von mir erhebt sich ein imposantes Gebäude. Die Humboldt-Universität. Auf der anderen Straßenseite wirken die Bauwerke nicht minder beeindruckend. Steinern und majestätisch umrahmen sie einen großen, zur Straße offenen Platz. So stelle ich mir das antike Rom vor.

 

Ich überquere die breite Allee, die auch zu dieser späten Stunde noch dicht befahren ist, und steuere auf den quadratischen Platz zu. In der Mitte stehen ein paar Leute und fotografieren den Boden. Was gibt es denn da zu knipsen? Ich nähere mich der kleinen Gruppe japanischer Touristen, die aber schon wieder weiterzieht, noch bevor ich sie erreiche.

 

Etwa im Zentrum des Platzes ist im Boden eine Metallplatte eingelassen. In der Dunkelheit kann ich schlecht erkennen, was darauf steht. Ich beuge mich etwas herunter und lese: „In der Mitte dieses Platzes verbrannten am 10. Mai 1933 nationalsozialistische Studenten die Werke hunderter freier Schriftsteller, Publizisten, Philosophen und Wissenschaftler.“

 

Ach, hier war das? Dann ist dies also der Bebelplatz.

 

Moment mal … Die Bücherverbrennung war am 10. Mai 1933. Hey – heute ist doch auch der 10. Mai! Der 10. Mai 2013! Das Ganze ist also genau 80 Jahre her. Wow. Ich fühle mich … irgendwie historisch. Mit der Geschichte verbunden. Falls es so ein Gefühl überhaupt gibt. Aber wo ist das Denkmal? Ich gehe ein paar Meter weiter und sehe direkt im Boden eine Glasscheibe. Huch! Ist es das? Ein in den Boden eingelassenes Fenster? Vorsichtig knie ich mich hin. Hinter der Scheibe, die ziemlich dick wirkt, strahlt ein hell erleuchteter Raum. Darin: Schrankwände. Leere, massive Regalkonstruktionen, die alle vier Wände bedecken und bis unter die Decke reichen. So klinisch weiß und sauber, sie könnten von IKEA sein. Was ist das für ein seltsames Denkmal? Ich verstehe es nicht.

 

Plötzlich durchströmt meinen Körper eine überwältigende Schwäche. Die Welt verschwimmt vor meinen Augen und ich spüre, wie mir mein Bewusstsein entgleitet. Alles wird schwarz …

 

Als ich wieder zu mir komme, sehe ich … Bücher! Unzählige Bücher, dicke, in Leder gebundene Wälzer und handliche Taschenbücher, dazwischen viele schmale Hefte, die sich bis unters Dach stapeln. Ich blicke nach oben. Ein gläsernes Fenster ist in die Decke eingelassen. Die Glasplatte von vorhin! Irgendwie bin ich in das Denkmal hineingefallen. Und jetzt macht es klick. Regale voller Bücher. Es handelt sich bei diesem Raum um eine Bibliothek! Das Fenster über mir lässt nur wenig Licht herein, da es mit irgendetwas bedeckt ist. Holz?

 

Die Decke ist etwa fünf Meter hoch und mit einem Sprung zweifelsohne nicht zu erreichen. Unschlüssig schaue ich mich um. Außer den Büchern und den Regalen gibt es hier nichts, keine Tür und auch keine Leiter. Vielleicht sollte ich versuchen, über die Bücherregale nach oben zu klettern? Aber die Scheibe befindet sich genau in der Mitte der Decke. Selbst wenn ich es auf eines der obersten Regale schaffe, könnte ich das Fenster nicht erreichen.

 

Die Regale der Bibliothek sind proppenvoll gestopft. Es müssen Tausende von Büchern in diesem Raum sein. Ruhig ist es hier, wie in allen Bibliotheken, in denen ich bisher gewesen bin. Es riecht nach Papier und nach Druckerschwärze. Und nach Millionen vergilbter Seiten. Aber ich bemerke auch noch einen anderen Geruch. Einen sehr unangenehmen. Das ist doch … Benzin!

 

Aufs Geratewohl ziehe ich ein Buch aus dem Regal. Es ist der erste Band des „Kapitals“ von Karl Marx. Noch bevor ich ihn aufschlagen kann, sehe ich es aus dem Augenwinkel blitzen. Erschrocken hebe ich den Kopf. Über der Glasscheibe sprühen Funken. Und dann fängt es dort an zu brennen. Das Holz hat Feuer gefangen.

 

Ich blicke wieder auf das Buch in meinen Händen. Bloß, dass da kein Buch mehr ist. Wo eben noch ein dicker Schinken lag, sehe ich nur noch meine nackten Hände. Das kann doch nicht sein!

 

An der Stelle im Regal, wo ich das Marx-Buch herausgezogen habe, klafft eine Lücke. Es ist nicht die einzige. Auf einmal fehlen überall im Raum Bücher in den Regalen.

 

Ich streife mit dem Finger über die Buchrücken. Die meisten Autorennamen sind mir unbekannt. Ich entdecke ein Buch von Erich Kästner, „Pünktchen und Anton“. Das habe ich als Kind gerne gelesen. Und noch lieber habe ich es mir vorlesen lassen. Meine Oma hatte eine wunderbare Vorlesestimme.

 

Ich blättere das Buch auf. „Erstes Kapitel – Pünktchen spielt Theater“, lese ich, und dann sehe ich es mit eigenen Augen: Das Buch löst sich in meinen Händen in Luft auf. Es dauert nur wenige Sekunden, bis es vollständig verschwunden ist.

 

Jetzt werde ich panisch. Ich haste durch den schummrigen Raum auf der Suche nach Autoren und Büchern, die ich kenne. Die Reihen lichten sich schneller, als ich gucken kann.

 

„Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Das haben wir in der Schule im Deutschunterricht durchgenommen. Gerade will ich danach greifen, als es auch schon verschwindet. So als ob ein herzloser Zauberkünstler es mit der Berührung seines Zauberstabs hat unsichtbar werden lassen.

 

Ich hetze in der Bibliothek umher, aber ich kann die Auflösung der Bücher nicht verhindern. Ein Grausen überkommt mich. Und auch ein Gefühl des Verlusts, obwohl ich die meisten dieser Bücher nie gelesen habe. Oder gerade deswegen? Zuletzt ist nur noch ein einziges, schmales Büchlein übrig. „Kurt Tucholsky – Schloss Gripsholm“ steht auf dem Buchrücken. Es flackert kurz, dann verschwindet es ebenfalls ins Nichts.

 

Ich sinke auf den weißen Boden. Tränen laufen mir übers Gesicht, mir ist übel. Die Bibliothek ist jetzt ganz leer, genauso wie vorhin, als ich sie durch die Scheibe auf dem Bebelplatz zum ersten Mal gesehen habe. Über mir lodern die Flammen. Es ist nach wie vor still, aber ohne die beruhigende Anwesenheit der Bücher erscheint die Stille beklemmend und gespenstisch. Der Anblick der leeren Regale schnürt mir die Kehle zu. Ich habe keine Kraft mehr, fühle mich schlaff und ausgebrannt und unendlich müde, und dann …

 

Knie ich mit einem Mal wieder auf der Glasscheibe des Bebelplatzes. Um mich herum die laue Mainacht, ein leichter Wind. Es riecht nach Stadt und nach Frühling. Definitiv nicht nach Benzin und Asche. Das ist das Hier und Jetzt, nicht die Vergangenheit. Und doch ist die Bibliothek unter mir leer.

 

Mir fällt ein, wie meine Oma mir das allererste Mal „Pünktchen und Anton“ vorgelesen hat. Ich muss wohl noch im Kindergarten gewesen sein, denn ich konnte damals noch nicht selbst lesen. Jeden Abend gab es ein Kapitel. Und am Ende hat meine Oma immer gelacht und gesagt: „Jaja, Berlin ist eine Reise wert!“