Was habe ich doch für ein Glück, dass ich so eine tolle Freundin habe! Kaum zu glauben, dass sie die ganze Zeit zu mir gehalten hat. Als ich sie kennen gelernt habe, waren alle, wirklich alle meine Freunde gegen Mandy. „So eine dumme Gans“, hat mein Kumpel Tobi damals gesagt, „warum hast du dich bloß mit so einer verlobt?“ Und ich habe geantwortet: „Gans oder gar nicht“, und mit den Schultern gezuckt. Mandy war mein ein und alles. Und sie ist es immer noch.
Mandy, Meine süße Mandy, sitzt neben mir am Krankenbett und reicht mir ein dickes Fotoalbum.
„Was ist denn das, Schatz?“
Sie lächelt stolz. „Ich habe alles dokumentiert. Die ganzen 22 Monate. Weißt du noch, die Digicam, die du mir zum Geburtstag geschenkt hast? Damit habe ich alles festgehalten.“
Jetzt bin ich aber gespannt. Was für eine super Idee von ihr! Es interessiert mich brennend, was ich in den letzten Monaten alles verpasst habe. Als Komapatient habe ich ja überhaupt nichts von der Welt um mich herum mitbekommen. Als ich gestern aufgewacht bin, dachte ich, dass ich vielleicht zwei Tage lang geschlafen hätte. Dass es fast zwei Jahre waren, war natürlich ein Riesenschock für mich.
Ich schlage das Album auf, mit Mühe, denn nach so langer Zeit ohne Bewegung bin ich ziemlich geschwächt.
Das erste Bild. Ich liege in einem großen weißen Bett, Schläuche in der Nase, das Gesicht blau und violett. Das muss direkt nach dem Unfall gewesen sein. Schnell blättere ich weiter … und muss stutzen.
„Wo bin ich denn hier?“
Das Foto zeigt mich mit geschlossenen Augen im Rollstuhl inmitten einer Gruppe fremder Menschen, die Sektgläser in den Händen halten.
„Bei der Silberhochzeit meiner Eltern!“, sagt Mandy fröhlich. „Sie wollten dich unbedingt kennen lernen. Sie finden dich übrigens ganz toll.“
Puh, das Kennenlernen mit Mandys Eltern hatte ich mir definitiv anders vorgestellt. Aber gut, ich kann den ersten Eindruck ja später noch korrigieren.
Auf der nächsten Seite muss ich direkt zwei Mal hinsehen, bevor ich mich erkenne. Auf dem Foto sitze ich in mich zusammengesunken in der Krankenhauskantine. Neben mir stehen Mandy und ein älterer Pfleger mit Tattoos am Hals. Den kenne ich, der hat mir gestern das Abendessen gebracht. Aber das Auffälligste an dem Bild ist meine Frisur. Meine Haare sind auf einer Kopfhälfte komplett abrasiert und auf der anderen in roten und grünen Streifen gefärbt.
„Mandy, was ist denn hier mit meinem Kopf passiert?“
„Gefällt es dir nicht?“ Mandy lächelt verzückt. „Ich dachte, nur weil du im Koma liegst, musst du nicht aussehen wie der letzte Penner. Ich hab meine Freundin angerufen, die Tina, die ihre Friseurausbildung abgebrochen hat. Sie hat dir den Schnitt verpasst. Ist der letzte Schrei in Japan!“
Ich sage nichts. Am liebsten würde ich wieder ins Koma fallen, so peinlich ist mir der Haarschnitt. Aber dass sich Mandy um mein Aussehen gekümmert hat, finde ich irgendwie rührend.
Ich blättere weiter. Ich, zu Hause bei meinen Eltern, mit Mandy vor dem Weihnachtsbaum liegend. Ich, im Rollstuhl neben Mandy, die gelbe Gummistiefel trägt und einen Korb voller Pilze in die Kamera hält. Ich, nackt bis auf ein weißes Handtuch um die Hüften und abgemagert bis auf die Knochen …
„Mandy, du warst nicht ernsthaft mit mir in der Sauna?“
„Doch, klar“, sagt sie und klingt dabei ein wenig beleidigt, „es war wichtig für dich, weiterhin am Leben teilzunehmen. Du könntest ruhig ein bisschen dankbarer sein!“
„Das bin ich auch“, sage ich schnell. Da fällt mir plötzlich etwas auf. Auf einem Foto, das Mandy und mich vor dem Eiffelturm zeigt, steht wieder der tätowierte Pfleger mit im Bild. Diesmal trägt er keinen weißen Kittel, sondern eine Lederhose und ein enges graues T-Shirt. Im umgekrempelten Ärmel steckt eine Packung Zigaretten.
„Mandy, ist der Pfleger etwa mit uns nach Paris gefahren?“
„Oh, ähem, ja. Ich wollte es dir eigentlich erst später sagen.“ Verlegen reibt sie sich die hübsche Stupsnase.
„Was? Was wolltest du mir erst später sagen?“
„Hör zu, Alex, es geht nicht mehr. Karsten und ich, wir lieben uns.“ Sie blickt mich traurig an. „Wir beide hatten eine schöne Zeit, aber jetzt ist sie vorbei.“
Ich glaube, ich höre nicht richtig. „Was denn für eine schöne Zeit? Wir kannten uns gerade mal acht Wochen, als du mich gegen den Baum gefahren hast!“
Ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. „War ja klar, dass du mir das jetzt vorhältst. So bist du immer. Jedes Mal, wenn ich dich irgendwohin mitgenommen habe, hast du diesen unzufriedenen Gesichtsausdruck aufgesetzt.“
„Mandy, ich lag im Koma!“
„Du gönnst mir mein Glück einfach nicht.“ Sie schluchzt.
„Mandy …“
„Nix Mandy. Es kriselt doch schon seit Wochen zwischen uns. Das musst du doch auch gemerkt haben.“
Dazu fällt mir beim besten Willen nichts mehr ein.
Quälend langsam streift Mandy ihren Ring vom Finger und legt ihn auf den Nachttisch neben meinem Bett. Dann steht sie auf. „Ich sollte jetzt nicht mehr hier sein.“
Im Türrahmen dreht sie sich noch einmal um. „Tschüs, Alex. Ich wünsche dir alles Gute.“
Ihre leiser werdenden Absätze verhallen auf dem Krankenhausflur. Dann ist es still.
Auf meinem Schoß liegt schwer das Fotoalbum. Das unwiderlegbare Dokument unserer Liebe.
Vielleicht hat Mandy recht, denke ich. Vielleicht hatten wir wirklich eine schöne Zeit. Immerhin habe ich mich in den letzten zwei Jahren nicht ein einziges Mal beschwert.